Aktuelles: Kolumnen zur politischen Bildung
Wir haben es uns gut eingerichtet in unserer Bundesrepublik Deutschland – jedenfalls die meisten von uns. Wir haben uns gewöhnt an Frieden, Freiheit, Sicherheit, an ausreichende Versorgung, an sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt.
Darüber sind wir bequem geworden, Drohnen der Demokratie sozusagen, satte Meckerer, die von ihrem Ruhelager aus zetern, wie schlimm alles geworden sei, nur wenn uns zugemutet wird, dass wir unsere Kissen mal selbst aufschütteln müssen.
Dann kommen die populistischen Schwätzer verschiedener Couleur und flüstern uns ein, wie viel besser es uns gehen könnte, wenn wir nur den Blick ins Vorgestern richteten und denen unsere Stimme gäben, die uns stramme Führung, nationale Abschottung, rigorose Verwirklichung der eigenen Gruppeninteressen versprechen.
Wenn wir ihnen aus Bequemlichkeit oder Unwissenheit nachgeben und sie machen lassen, dann wird sich bald die hässliche Fratze des Faschismus, des Stalinismus oder des libertären Autoritarismus zeigen – aber dann ist es zu spät zur Umkehr.
Was können wir dem entgegensetzen? Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der demokratische Rechtsstaat, in dem wir es uns so schön bequem eingerichtet haben, Zinsen einfordert für das Leben, das er uns bietet, Zinsen mindestens in Form von Engagement und wachem politischem Bewusstsein.
Dafür ist die Schule ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Ort. Und dennoch ist diese Einforderung dort lange zu kurz gekommen, ist der politische Unterricht routiniert und fad gewesen, abgefragter Wissenserwerb, bestenfalls, aber kein Ansporn, keine Einladung zum Engagement.
Dass sich das ändern muss, haben inzwischen auch die Länderregierungen, zuständig für den Unterricht, begriffen und sind bereit, wenigstens ein bisschen was zu tun für eine Art „Verfassungspatriotismus“, also einen gewissen Respekt vor dem, was diese demokratische Staatsverfassung für unseren Alltag leistet, und eine gewisse Bereitschaft, für den Erhalt eben dieser Verfassung einzutreten – auch und gerade in Krisenzeiten. Ein winziger, aber immerhin richtiger Schritt in diese Richtung ist etwa die wöchentliche „Verfassungsviertelstunde“, die seit neuestem den bayerischen Schüler/innen zur Verfügung steht.
Auch wenn sich das sehr karg anhört, lässt sich doch vielleicht etwas daraus machen.
So hat sich Eselsohr, traditionsreiche Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien, mit ihrer rührigen Herausgeberin Christine Paxmann, die sich Demokratieerziehung schon lange auf ihre Fahnen geschrieben hat, entschlossen, alle zwei Monate Platz zur Verfügung zu stellen für eine Kolumne mit Anregungen zum Verfassungsunterricht im weitesten Sinn, also ohne das Kleben an Vertaktung, Lehrplänen und Verwaltungsvorschriften.
Die Texte finden sich hier. Mögen sie etwas nützen!
Die heiße Viertelstunde
Ich konnte mir ein müdes Lächeln nicht verkneifen, als ich von den Plänen der Bayerischen Staatsregierung las, künftig an allen Schulen eine „Verfassungsviertelstunde“ einzuführen. Das Demokratieverständnis und Wertebewusstsein der Schüler/innen, so hieß es, solle damit vertieft werden.
Das übliche, dachte ich. Da tut sich eine gesellschaftliche Wunde auf – schwupps, wird ein dekoratives Pflästerchen draufgeklebt, schon sieht man nichts mehr – und man kann sagen, man habe doch etwas getan für die Demokratie und gegen Extremismus.
Keinen weiteren Gedanken wert – oder doch? Ließe sich aus dem Viertelstündchen vielleicht doch etwas machen?
Was ist denn die gesellschaftliche Wunde, die da zugepflastert werden soll? Offenbar weiß eine steigende Zahl junger Menschen nichts mehr anzufangen mit Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, fühlt sich überfordert von Globalisierung und Vielfalt möglicher Lebensentwürfe: anything goes, aber wer sagt einem, wo genau es lang geht?
Viele Regeln von Kirche, Schule und Elternhaus früherer Zeiten sind längst fragwürdig geworden oder gelten nicht mehr. Aber selbst, wenn man ihnen nicht nachtrauert – woran soll man sich denn dann orientieren?
Neue Orientierung glauben offenbar viele jungen Menschen in ihren Bubbles in den sozialen Medien zu finden. Dort nimmt ihnen jemand das Denken ab, verspricht ihnen simple Problemlösungen und Lebenswege ohne steinige Engstellen. Diesen Heilsverkündern folgen sie in Gedanken und in Taten, oft ohne eine Vorstellung davon zu haben, wohin das führen kann.
Vielleicht kann die „Verfassungsviertelstunde“ dem eine andere Orientierung entgegensetzen, indem sie zum Symbol und zum Ritual wird: Einmal in der Woche sind Menschenwürde, Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit regelmäßig Thema, zwar nur für ein Viertelstündchen, aber für den Anfang besser als nichts.
Freilich müssten alle Beteiligten sie dafür ernst nehmen und nicht als lästige Pflicht lustlos abarbeiten. Ebenso wenig dürfte es bei der Viertelstunde bleiben. Aus dem Wissen um den Wert einer Verfassung, die jeden Einzelnen vor staatlichen Übergriffen und gesellschaftlicher Benachteiligung schützt, muss die Bereitschaft werden, sich aktiv für deren Erhalt einzusetzen. Sie muss – leider ist das inzwischen so – gegen Extremist/innen und Autokrat/innen verteidigt werden, die geschichtsvergessen faschistischer oder stalinistischer Größe hinterher weinen und unser aller Freiheit gefährden.
Zur Demokratiebildung unserer Kinder und Jugendlichen, von der Grundschule bis zum Gymnasium, möchte diese Kolumne künftig ihren Beitrag leisten. Sie will nicht nur helfen, die „Verfassungsviertelstunde“ lebendig und originell zu gestalten, und einschlägige thematische Hinweise geben, sondern, mehr noch und darüber hinaus, mit ihren inhaltlichen, didaktischen und methodischen Anregungen dabei mitwirken, die Wertschätzung der rechtsstaatlichen Demokratie als übergeordnetes Bildungsziel im Bewusstsein junger Menschen zu verankern: Diese ist es nämlich, die ihnen am ehesten einen Lebensweg ermöglicht, der selbstbestimmt ist und ihren individuellen Fähigkeiten gerecht wird.
Im österreichischen Fernsehen gab es 1968 schon einmal eine politische „Viertelstunde“, kreiert hatte sie der Kabarettist, Chansonnier und Zeitkritiker Georg Kreisler. Er nannte sie „Die heiße Viertelstunde“. Über ihr Schicksal erzählte er: „Sie wurde gesendet im 12. Programm um 3 Uhr nachts und nach bewährtem Muster immer seltener und seltener …“
Möge es der neuen „Viertelstunde“ besser ergehen – „Eselsohr“ will an dieser Stelle dabei mithelfen. Vielleicht kann sie dann eines Tages über Bayern hinaus Schule machen.
Am Anfang ist das Ritual
Verfassungsviertelstunde, die zweite
„Ritual? Er wird doch wohl hoffentlich nicht vorschlagen, dass die Kinder jeden Morgen mit der Hand auf dem Herzen die Fahne grüßen und die Nationalhymne absingen?“
Nein, das schlage ich natürlich nicht vor. Tatsächlich gibt es dieses Ritual an amerikanischen Schulen. Dass es zur Stärkung der amerikanischen Demokratie beitragen würde, scheint mir im Moment zweifelhafter denn je. Abgesehen von den Gefahren (sie zu erörtern würde hier zu weit führen), die eine solche zur bloßen Gewohnheit erstarrte vermeintliche Vaterlandsliebe birgt, glaube ich ihre alsbaldige Wirkung bei den Kindern vorhersagen zu können: Gleichgültigkeit und Langeweile. Rituale ohne Erkenntnisgewinn werden sehr schnell leblos.
Also nichts mit morgendlicher Flaggenparade.
Dennoch – ein Ritual sollte es geben, etwas wie beispielsweise die Regel: Montag ist Verfassungstag.
Jeden Montag (der genauso gut auch ein Dienstag oder Donnerstag sein könnte) gäbe es also etwas, das den gewohnten Alltag unterbricht, setzten sich junge Menschen aller Altersgruppen und aller Schularten (und ihre Lehrer/innen) mit einem wichtigen Textteil dieser Verfassung bzw. der daraus resultierenden Lebenswirklichkeit auseinander.
Warum das wichtig ist?
Weil bei diesem Ritual alle gezwungen sind, sich – fern aller falschen Emphase und chauvinistischer Nationaltümelei – darüber klar zu werden, wie die demokratische Verfassung dieser Bundesrepublik Deutschland, dieses nüchtern (ehemals als Provisorium für den Westteil des geteilten Landes) so genannte „Grundgesetz“ uns allen ermöglicht, bei einem Mindestmaß an Einschränkung unserer Freiheit ein hohes Maß an Wohlstand, Lebenssicherheit und Fürsorge in Anspruch zu nehmen.
Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Notwendigkeit, für diese Verfassung einzustehen und sie vor böswilligen Zerstörungsversuchen zu bewahren.
Zum Verfassungstag würde natürlich auch gehören, dass alle Heranwachsenden nach der Grundschulzeit ein gedrucktes Exemplar des Grundgesetzes in die Hände bekommen, das sie durch ihre Schulzeit begleitet.
Und, nebenbei bemerkt: Es gibt eine ganze Reihe ausführlicher Kommentare zum Grundgesetz, der dickste ist weit über 8000 Seiten stark und kostet ein kleines Vermögen. Warum gibt es keinen speziell für Kinder und Jugendliche? Einen ab zehn vielleicht und einen ab 13? Es ist sicher keine leichte Aufgabe, einen Satz wie z.B. Artikel 2 (Zur Erinnerung: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt) in klarer, verständlicher Sprache für junge Menschen zu kommentieren und mit anschaulichen, knappen Fallbeispielen zu versehen. Aber es wäre der Mühe wert!
Am Anfang aller Beschäftigung mit dem Grundgesetz, sozusagen als zentrale Überschrift über dem Verfassungstag, sollte eine altersgerecht vertiefte Auseinandersetzung mit dem ersten Satz ihres ersten Artikels stehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz, so einfach und scheinbar vage er da steht, hat eine enorme Wucht. In der knappen Formulierung ist im Grunde genommen schon die ganze Verfassung enthalten: Unantastbar ist die Würde des Menschen nur im Rechtsstaat. Aus ihrer Unantastbarkeit folgen zwangsläufig die Abschaffung der Todesstrafe, das Recht auf Freizügigkeit und die Gleichberechtigung ebenso wie die Glaubensfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Benachteiligungsverbot. Denn ohne all diese Grundsätze, die den Rechtsstaat ausmachen, gäbe es keine Unantastbarkeit der menschlichen Würde. In diesen Zusammenhang gehört auch der zweite Satz des ersten Artikels: Sie (die Würde) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Damit steht der Mensch als Einzelwesen und als Teil der Gesellschaft im Mittelpunkt des staatlichen Handelns: Der Staat ist für die Menschen da – und nicht umgekehrt.
Über Satz eins und zwei des ersten Artikels des Grundgesetzes lässt sich am Verfassungstag bestens debattieren. Und die Debatte ist eine Form des Meinungsaustauschs, die jedes Mitglied einer demokratischen Gesellschaft unbedingt beherrschen sollte. Sie ist das Lebenselixier der Demokratie.
Darüber demnächst mehr.