Kolumnen aus dem Leben

Die Kolumne, journalistische Kleinform, die einen zwingt, Meinungen und Gedanken präzise auf den Punkt zu bringen und dabei unterhaltsam und lesbar zu schreiben, habe ich immer schon geliebt. So habe ich z.B. jahrelang für das KWA-Journal geschrieben. Das KWA („Kuratorium für das Wohnen im Alter“) ist ein gemeinnütziges Unternehmen, das in ganz Deutschland Seniorenheime , dazu eine Pflegeschule und ein geriatrisches Krankenhaus unterhält.

Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die alten Menschen, die die Heime bewohnen, und für seine zahlreichen Freunde und Förderer bringt das KWA eine  Zeitschrift heraus, die, neben Wissenswertem aus dem Unternehmen, Reportagen aus den einzelnen Einrichtungen, Interviews und einschlägigen wissenschaftlichen Berichten, auch Beiträge zu allgemeinen Themen enthält, die alte Menschen (und nicht nur sie!) im ihrem Alltag und in ihren täglichen Reflexionen bewegen.

Zu diesen Beiträgen zählt auch meine Kolumne. Kindheit, Jugend, Alter und Tod haben mich darin ebenso beschäftigt, wie die Frage nach dem Umgang mit Krankheit und Leid, nach der Bedeutung des Glücks, nach der Zukunft unseres Planeten und vieles mehr.

Ich wünsche mir, dass Leserinnen und Leser durch diese Miniaturen auf kurzweilige Art zu einem Thema menschlichen Lebens  geführt werden, das ihnen Raum für eigene Gedankenspiele und – vielleicht – einen Anstoß für die Suche nach neuen Erkenntnissen gibt.

Vater und Sohn

Als mein Sohn ein kleiner Junge war, so drei, vier Jahre alt, da gab es jede Woche eine Reihe von wichtigen Terminen, die wir beide auf keinen Fall versäumen wollten: Spaziergänge von Vater und Sohn - nur wir beide.

Meistens fuhren wir zuerst eine kleine Strecke mit dem Auto, denn steile Hänge, Wald und rauschende Bäche, die wir für unsere Spaziergänge unbedingt brauchten, die gab es nicht vor der Haustür.

Wenn das Auto dann geparkt und wir abmarschbereit waren, passierte immer dasselbe: ein Bubenhändchen schob sich von hinten in meine große Pranke und hielt sie fest, und während ich das schreibe, meine ich den sanften Druck der kleinen Finger wieder zu spüren. Jetzt geht’s los, signalisierte der Druck, jetzt sind wir unter uns und können uns ruhig dreckig machen, und noch mehr: Hast du dein Taschenmesser eingesteckt? Die Süßigkeiten nicht vergessen? Vielleicht auch ein paar von den kleinen Metallautos dabei? Das alles sagten mir die kleinen Finger, die sich in meine Hand schmiegten, ich bin ganz sicher, und noch heute spüre ich ihre Wärme.

Wir liefen los, stapften durch Laub und Matsch, und der Kleine an meiner Seite machte immer drei Schritte, während ich einen machte. Wir schnitzten Dolche und Speere aus Erlenholz, verspeisten unsere Bonbons und ließen die kleinen Autos vom Vordach einer verfallenen Hütte hinabsausen.

Wenn wir eine Weile bergauf gegangen waren und es Zeit zum Umkehren wurde, wenn der Rückweg lang und steil wie eine Rodelbahn war, dann kam unser Lieblingsspiel. Es hatte keinen Namen und ging ganz einfach: Jeder durfte abwechselnd grün – gelb – rot sagen, ohne dass der andere wusste, wann. Bei grün rannten wir los, bei gelb spannten wir die Sinne an, bei rot: Vollbremsung!

Und dann rasten wir bergab. Ganz fest ruhte jetzt die kleine Bubenhand in meiner Faust. Gelb - -- rot! Grell kreischten die Bremsen – aus Höchstgeschwindigkeit zum Stand, in einem Meter! Grün – losrennen – Achtung, gelb! Rot!! Ganz kleine Schrittchen machte ich jetzt, damit der kleine Mann an meiner Seite nicht aus dem Tritt geriet, und packte ihn ganz fest, während wir den Weg hinuntersausten. Das war ihm sicher nicht bewusst, aber er vertraute mir. Der Papa hielt ihn, was sollte da schon passieren?

Es waren wunderbare Spaziergänge.

Im Lauf der Jahre wurden die Termine seltener und weniger wichtig, und dann kam eine Zeit, da gab es sie überhaupt nicht mehr. Man nennt das „Abnabelung“ oder „Pubertät“; es ist schmerzhaft für Väter (und Mütter), aber es muss sein.

Heute gibt es die Spaziergänge wieder. Mein Sohn ist inzwischen einen halben Kopf größer als ich, und wenn er einen Schritt macht, muss ich zwei machen. Er drosselt außerdem sein Tempo beim Laufen, sonst könnte ich nicht mithalten.

Meine Hand nimmt er nicht mehr, aber wenn eine Wegstrecke besonders steil, felsig oder rutschig ist, dann eilt er voraus und stützt mich, denn er weiß, dass meine Wirbelsäule nur noch von meinem Eigensinn zusammengehalten wird. Auf seine stützende Hand kann ich mich felsenfest verlassen, genauso wie er sich damals auf meine.

Man könnte sagen, aha, die Verhältnisse haben sich umgekehrt, früher half der starke Große dem schwachen Kleinen, jetzt hilft der starke Junge dem schwachen Alten. Aber so ist es nicht, nicht nur. Denn während wir früher geschnitzt und getobt haben, reden wir jetzt.

Mein Sohn erzählt mir von seinen Plänen, von Problemen und Chancen, von verpassten und von genutzten Möglichkeiten. Immer wieder fragt er mich auch um Rat, fordert Kritik oder Bestätigung. Er muss, wie alle jungen Erwachsenen, mit Entscheidungen ringen, Probleme bewältigen, Weichen stellen. Ich versuche dann, ihm zu raten, mit meinen langjährigen beruflichen Erfahrungen, mit den Schlüssen, die ich aus vielen frohen oder auch trüben Lebenssituationen gezogen habe. Während er sich damals auf meine Hand verlassen konnte, kann er sich heute auf meinen Rat verlassen. Nur die Verantwortung für sein Bergabrennen, die muss er jetzt selbst übernehmen.

Und wieder sind es wunderbare Spaziergänge, wenn auch ganz andere.

Manchmal, ich gesteh’s, manchmal sehne ich mich zurück nach der kleinen Hand, die sich vertrauensvoll in die meine schmiegte, nach der langen Lebensspanne, die damals noch vor mir lag.

Meistens aber, wenn ich mich nach einem Spaziergang behaglich im Sessel zurücklehne und ein Glas trinke mit meinem Sohn, möchte ich genauso alt sein, wie ich gerade bin.

Noch mal zwanzig?

Neulich war ich zur Feier eines siebzigsten Geburtstags eingeladen. Als die Tischreden und Würdigungen der Jubilarin vorüber, als Vorspeisen und Hauptgang serviert und verzehrt waren, erhoben sich zwei Herren, beide etwa im Alter des Geburtstagskinds, und schritten zum bereitstehenden Klavier. Mir wurde ein wenig mulmig zumute; planten die Herrschaften womöglich, mit vollem Magen ein Lied von Schubert oder Brahms zu verunstalten?

Meine Bedenken waren gottlob überflüssig, denn gleich darauf erklang ein Stück, dem man auch nach dem reichlichen Genuss von Sauerbraten und Knödeln nicht allzu viel antun konnte: „Sitzt der Mensch beim Weine,/ werden alle seine/ längst vergang’nen Wünsche wach...“ Und wenig später kam der Refrain, den jeder kennt, der die 60 überschritten hat: „Man müsste noch mal zwanzig sein/ und so verliebt, wie damals / und irgendwo am Wiesenrain/ vergessen die Zeit...“

Natürlich sangen ihn alle mit, mich eingeschlossen; etliche zerdrückten sogar ein Tränchen vor Rührung, bevor sie sich ihrem Nachtisch widmeten.

Während auch ich mir den ersten Löffel Mousse au chocolat auf der Zunge zergehen ließ, wanderten meine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Als ich zwanzig war – mein Gott, war das lang her! – hatte gerade mein erstes Semester begonnen. Meine Studentenbude war ungefähr 15 Quadratmeter groß. Die Möblierung bestand aus einem alten Sofa, einem Schreibtisch, der ein bisschen wackelte, drei Matratzen, einem Tisch, einem Stuhl, einem Waschbecken und einem Bücherregal aus Brettern und Ziegelsteinen. Heizen konnte man mit einem großen Elektro-Ofen, den ich aber nur selten anmachte, weil ... nun ja, mein Budget war nicht allzu groß damals. Toilette, Dusche und Kühlschrank befanden sich auf dem Gang, für alle Bewohner und Bewohnerinnen. In welchem Zustand sie waren, hing davon ab, wer sich freiwillig zum Saubermachen entschloss. Das Fahrrad, mit dem ich herumkurvte, wog gefühlt eine halbe Tonne und hatte keine Gangschaltung. Und am Wochenende ging ich kellnern, um meinen schmalen Wechsel aufzubessern.

Unwillkürlich musste ich lachen über meine düsteren Erinnerungen. Ganz so schlimm war es ja nun wirklich nicht gewesen, vielmehr hatte das Leben damals auch großartige Seiten. Niemand machte mir Vorschriften. Wenn ich morgens nicht aus den Federn wollte, dann blieb ich eben liegen. Wenn ich abends nicht vor meinen Büchern sitzen mochte (damals saß man noch vor Büchern und nicht vor dem Bildschirm), dann war das kein Problem: In meiner Stammkneipe gab es einen süffigen Hausschoppen, für den reichte das Geld allemal. Stand die Wirtin persönlich hinter dem Tresen, genügte es sogar, nur ein Achtel zu bestellen – sie schenkte so gut ein, dass zum Viertel gerade ein Fingerbreit fehlte. Und wenn man verliebt war, am Wiesenrain oder sonst wo, konnte man tatsächlich die Zeit vergessen.

Trotzdem – die reine Seligkeit war es nicht gewesen, zwanzig zu sein. Und außerdem: Selbst wenn man die Uhr zurückdrehen könnte, sie bliebe deshalb noch lange nicht stehen. Man würde also noch einmal wieder 30, 40, 50 werden und müsste so sein ganzes Leben ein zweites Mal bestehen: Nicht nur die Jubelfeiern und die Triumphe, die Erfolge und die Glücksmomente, die Urlaube und die Liebesabenteuer. Sondern auch Prüfungen und Ungerechtigkeiten, Ängste und Niederlagen, Einsamkeit und Enttäuschungen, Ärger im Beruf und Sorgen mit den Kindern, Krankheiten und Schmerzen, den Verlust geliebter Menschen, alles eben, was bisher das Leben ausgemacht hatte.

Haben sich das die Leute überlegt, die so sehnsuchtsvoll seufzen: „Ach Gott, jung müsste man noch mal sein, noch einmal zwanzig“? Mir scheint, sie machen sich etwas vor: Sie halten den Film ihrer Erinnerungen nur an den idyllischen Szenen an: Nur dort, wo sie an einem warmen Augustabend händchenhaltend und verliebt am Wiesenrain saßen, nicht dort, wo sie an einem eisigen Dezembermorgen halberfroren am Wiesenrain auf den verspäteten Bus warteten.

So ist es nun einmal, das Leben. Es besteht aus Freiheit und Zwang, aus Krankheit und Gesundheit, aus Erfolgen und Niederlagen, aus Freude und Trauer. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.

Ich war mir auf dieser Geburtstagsfeier ziemlich sicher: Ich wollte nicht noch einmal zwanzig sein. Verliebt sein kann man auch mit Neunzig, und den Wiesenrain gibt’s auch noch. Also, dachte ich mir, ein Hoch auf die Gegenwart – und auf die wirklich köstliche Mousse au Chocolat!

Gib jedem seinen eigenen Tod?

Zehn Jahre ist es jetzt her, da habe ich binnen einer Woche zwei enge Freunde verloren. Der eine, ein optimistischer Tatmensch, erlag einem bösartigen Tumor, gegen den er sich jahrelang mit Mut und Leidenschaft erfolgreich gewehrt hatte. Der andere, ein nachdenklicher und introvertierter Intellektueller, starb von einem Augenblick zum anderen an einem geplatzten Aneurysma im Gehirn.

Als sich der erste Schock gelegt und nach Tagen heftiger, vorwurfsvoller Trauer allmählich sich die dauerhafte, bis in die Gegenwart schmerzliche Erkenntnis eingestellt hatte, dass die beiden unwiederbringlich fort waren aus meinem Leben, widerfuhr mir das, was in solchen Situationen, glaube ich, vielen Menschen widerfährt: Mir kamen Gedanken an mein eigenes Ende: Wie würde es wohl sein? Würde der Tod über Nacht kommen? Sanft oder als Moment des Entsetzens? Würde er sich jahrelang hinziehen? Wäre wie ein qualvoller Gang durch eine wasserlose Wüste oder wie eine ruhige, zufriedene Fahrt zum Ziel? Würde mich ein unbekanntes Virus schnell dahinraffen oder vielleicht ein betrunkener Autofahrer? Natürlich wusste ich keine Antwort auf diese Fragen, niemand weiß sie, denn niemand kann in die Zukunft schauen. Aber dennoch sind sie immer wieder da. Und andere kommen hinzu:

Wie würde ich dem nahenden Tod begegnen? Ihn fürchten, hassen oder begrüßen, ihn zu verzögern suchen oder zu beschleunigen? Ihn einfach müde oder leidenschaftslos hinnehmen? Keiner kann diesen Fragen ausweichen, denn jeder weiß ja um die Unabweislichkeit des eigenen Todes.

Jetzt, da sich der Todestag meiner Freunde zum zehnten Mal jährt und überdies Monate hinter und vielleicht vor uns liegen, die uns mit besonderer Intensität an die Möglichkeit des nahen Todes mahnen, kommen mir die Gedanken von damals wieder häufig in den Sinn.

Bei Rainer Maria Rilke fand ich in seiner Gedichtsammlung „Das Stundenbuch“ folgende Verse:
O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,

darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Rilke gibt diesen Versen die Form eines Gebets (ein Stundenbuch orientiert sich am klösterlichen Stundengebet). Davon einmal abgesehen, lese ich daraus, dass das Sterben vielleicht ein letztes Mal unser Leben widerspiegeln, gleichsam eine Quintessenz unseres Lebens darstellen könnte.

Was bedeutet das konkret? Mir fiel der reiche Mann ein, der sich nach einem Leben als Mitglied des internationalen Jetsets eine Kugel durch den Kopf schoss, weil er nicht ertragen konnte, dass er alt wurde. Der leichtsinnige junge Motorradfahrer aus meinem Dorf, der gegen eine Leitplanke raste, der Freeclimber, der bei einem besonders aberwitzigen Kletterabenteuer in den Tod stürzte. Auch der alte Bauer, der nach vielen Jahrzehnten voller Arbeit einfach des Lebens müde war und sich zum Sterben legte, oder die weltberühmte Operndiva, die mit 90 Jahren lebenssatt die Augen schloss. Wie sehr sind bei ihnen allen Leben und Sterben, Wesen und Tod miteinander verknüpft! Ist das nicht, auf tausend verschiedene Weisen, bei uns allen so?

Im „Stundenbuch“ findet sich auch die folgende Strophe:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Vielleicht liegt in diesen Worten eine mögliche Antwort auf die vielen Fragen zum Sterben und zum Tod. Sie helfen mir dabei, immer dann, wenn ich an den Tod denke, vor allem an das Leben zu denken. So lange es währt, wächst es auch, bringt neue Erfahrungen, neue Not, aber auch neuen Sinn; keiner weiß, ob er das Feld seiner Lebenskreise, das ihm sein Wesen eröffnet, ganz ausschöpfen, all das erfüllen kann, was in seinen Möglichkeiten liegt. Aber er kann es doch versuchen und mit Leidenschaft danach streben.
Meine beiden Freunde haben das Leben verloren, ohne diesen letzten Ring zu vollbringen, und auch das ist es, was meine Trauer um sie bis heute so groß macht. Versucht aber haben sie es, und das hat ihr Leben lebenswert gemacht, bis zum letzten Augenblick.
Ich glaube, es lindert die Furcht vor dem Tod, wenn man ihn so begreifen will: als Vollendung des eigenen Lebens. Und wenn man versucht, dies Leben bis zum letzten der wachsenden Ringe zu vollbringen, dann nimmt das dem Tod einen Teil seiner Bitterkeit.
Denn dann war es ein gutes Leben – und ist ein eigener Tod.

Vom Sinn des Spiels

Als mein Sohn (die Leser dieser Kolumne kennen ihn schon) noch nicht wie heute 188, sondern erst 90 cm groß war, stellte er jedem, der sich in der Nähe befand und sein Vertrauen genoss, mit erwartungsvollem Gesicht über kurz oder lang eine Frage. Sie lautete: „Bielssu mit mir?“ (Für alle, denen diese Frage nicht vertraut ist, hier die Übertragung: „Spielst du mit mir?“). Mama, Papa, Oma, Patentante, Freunde, Bekannte, einer konnte meistens dem sehnsüchtigen Blick der Bubenaugen nicht widerstehen. Wenig später hockten er oder sie mit dem Kleinen irgendwo auf dem Boden, vertieft in ein aufregendes Szenario mit aufeinander krachenden Matchbox-Autos, großen Lastern, die ihre Ladung auf dem Teppichboden abkippten, oder, wenn man Pech hatte, auch mit schräg klingenden Glockenspielen und scheppernden Trommeln. Regeln gab es in diesen Spielen keine, was da passierte, ergab sich intuitiv.

Fand sich aber niemand, der entsprechend vereinnahmt werden konnte, war das auch nicht weiter schlimm. Dann verschwand der Kleine nach kurzer Enttäuschung in seinem Zimmer, und man hörte nichts mehr von ihm. Doch wer eine Zeitlang später einen Blick zu ihm hineinwarf, sah ein Kind, das völlig selbstvergessen spielte: Mal mit kühnen Konstruktionen aus Bauklötzen, die einem heranbrausenden Schwungradauto widerstehen mussten, mal mit einer Anzahl Bilderbücher, die als Eisenbahntunnel, als Autorampen oder auch nur, ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß, zum Anschauen dienten. Einmal sah ich ihn mit einem Stoffhasen und einer Haarbürste; jemand hatte ihm die Geschichte vom Hasen und vom Igel erzählt, einen Igel gab es nicht in seiner Stofftiersammlung, aber die Haarbürste bot vollständigen Ersatz.

Mich berührten solche Szenen immer sehr, denn ich sah, wie das Kind sich dabei die Welt vertraut machte: Da war nichts Zweckgebundenes, nichts, was man ihm mit didaktischen Hintergedanken verordnet hätte, nichts, was seine Motorik oder seinen Wortschatz hätte optimieren sollen. Es kam ganz aus ihm selbst heraus, beruhend nur auf seinen eigenen Erfahrungen, auf seiner Fantasie, aus den Bildern in seinem Kopf. Und dennoch war es förmlich greifbar, wie er daraus für sich Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Entscheidungsmodelle entwickelte. Und wofür und wie ein Gegenstand, ein Spielzeug, ein Figürchen Verwendung fanden, das bestimmte er ganz allein.

Um es deutlich zu sagen, ich habe gar nichts gegen zweckgebundene, didaktisch wertvolle Spiele, durch die sich jemandes Führungsqualitäten, seine Toleranz, sein Wissen und Können weiterentwickeln sollen, ich habe auch nichts gegen Formen

des Spiels, in denen man seine intellektuelle Leistungsfähigkeit oder seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen soll. Im Gegenteil, ich halte sie für ein wertvolles Mittel der Erziehung, der Fortbildung, der Selbstmotivation und der Unterhaltung.

Aber ich bemerke doch mit Bedauern, dass mit dem Ende der Kindheit viele Menschen diese andere, freie und im eigentlichen Sinn schöpferische Art zu spielen aufgeben oder gar ablehnen. Eine junge Wissenschaftlerin hat mir einmal in einem Gespräch über – zweckfreie – Sprachspielereien, wie Schüttelreime, Palindrome oder Anagramme, die nur um ihrer selbst willen entstehen, kurz und bündiggeantwortet: „In der Zeit, die ich damit vertrödele, solch sinnloses Zeug zu basteln, kann ich auch was Vernünftiges machen.“
Ich glaube, der guten Frau entgeht etwas wirklich Wesentliches. Zeigt nicht das Spiel des in sich selbst versunkenen kleinen Buben gerade, dass das kreative, zweckfreie Spielen keineswegs vertrödelte Zeit bedeutet? Wächst daraus nicht immer wieder auch Erkenntnis? Und was wäre daran „sinnlos“ oder „unvernünftig“?
Albert Einstein, bekanntlich ein ziemlich vernunftbegabter Mensch, äußerte einmal „Das Spiel ist die höchste Form der Forschung“, und damit meinte er eben dieses regellose, freie, unerzwungene Schweifen des Geistes und der Fantasie, das aus einem selbst entspringt, bei dem gerade nicht feststeht, was am Ende dabei herauskommen muss – und bei dem folglich alles herauskommen kann. Wer sich immer in Normen und Regeln pressen lässt, gerät auch niemals über sie hinaus – er bleibt begrenzt. Wer sich aber darauf einlässt, wirklich zu spielen, der kann, in jedem Alter und in jeder Lebensphase, über sich hinauswachsen.
Man kann mit anderen so spielen oder allein. Man braucht dazu nichts als vielleicht ein paar Noten oder Buchstaben, einen Stoß Spielkarten, eine Handpuppe, ein paar Zettel und Stifte, ein Stück Holz oder eine Handvoll Kieselsteine... Man sollte sich aber etwas bewahrt haben vom Geist eines kleinen Kindes, das sich einer Haarbürste bediente, weil gerade kein Igel zur Hand war.

Das Buch der BÜcher

Viele Geschichten könnte ich erzählen, in denen Bücher eine Rolle spielen. Wie ich als kleiner Junge im Wilhelm-Busch-Album begeistert die Abenteuer von Tobias Knopp verfolgte. Wie ich zwölfjährig mit Kapitän Hornblower auf den Weltmeeren den korsischen Tyrannen bekämpfte. Atemlos mit Oliver Twist bei einem Einbruch Schmiere stand... Aber während ich hier inmitten all meiner Bücher sitze, die so etwas darstellen, wie die Geschichte meines Lebens, kommt mir ein Gedanke: Was wäre, wenn ich, warum auch immer, von all diesen Büchern, nur ein einziges, behalten dürfte? Schwer vorstellbar, aber auf welches würde meine Wahl dann fallen?

Wie von selbst erscheint plötzlich eines vor meinem inneren Auge. Ich muss nicht danach suchen, ich weiß, wo es steht und ziehe es heraus. Es ist über elfhundert Seiten stark und heißt „Der ewige Brunnen“. 1600 Gedichte aus achthundert Jahren deutscher Sprache enthält es, kurze, lange, ernste, heitere, leicht zugängliche und verschlüsselte. Ich schlage es auf, ganz willkürlich, irgendwo, und lese:

„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
das ist der Bücher tiefster Sinn.“
Von Heinrich Heine stammt die Strophe – und ich weiß nichts Besseres, um einem Pandemie- Tag eine lange Nase zu drehen und ihn fröhlich anzugehen.
Eine neue Seite, irgendwo im Buch, ein Gedicht von Theodor Storm diesmal:
Über die Heide hallet mein Schritt,
dumpf aus der Erde wandert es mit.
Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –
gab es denn einmal selige Zeit?
Brauende Nebel geisten umher;
schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.
Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe – wie flog es vorbei!
Da sitze ich über meinem Buch und sehe Jahre vorüberziehen, frohe und trübe, das Leben, dessen Straße der Erinnerungen inzwischen so viel länger ist als der Weg in die Zukunft. Schnell blättere ich weiter – und muss lachen. Vor einigen Jahren war ich mit meiner Frau in Wien; dort haben wir uns – unter Schmerzen – den Lohengrin angetan. Und was lese ich hier?„Nach Schluss der langen Oper hörte
ich neulich folgende Kritik:
Was mich an dieser Oper störte,
das war der Schwan und die Musik!“
Heinz Erhardt hat diese meisterliche Kürzestrezension verfasst: Dank sei ihm dafür!
Noch einmal schlage ich mit geschlossenen Augen eine Seite auf:
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblüht, verblich.
Es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

Eine Strophe aus dem Gedicht „Nur zwei Dinge“ von Gottfried Benn, eines von denen, über die man lange grübelt, die Fragen stellen, deren Antworten man selber finden muss, jeder für sich. So könnte ich weiterblättern, käme von Witzigem zu Ernstem, von Alltäglichem zu Existentiellem, und ich entdeckte jeden Tag etwas Neues – kein Roman, kein Sachbuch könnte mir etwas Vergleichbares bieten. Das Buch kommt mir vor wie ein kleiner und doch unerschöpflicher Blumengarten, der alles enthält, was es an Farben, Düften und Formen gibt: Man durchwandert ihn, man staunt, lacht, weint, begreift neu, ohne je zum Ende zu kommen oder sich jemals zu langweilen. Oder, wie Gottfried Benn es ausdrückt: „Es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte/die Dinge mystisch bannen durch das Wort.“

Ich blättere noch ein letztes Mal, ganz nach vorn, zum ersten Gedicht des Buchs, Albrecht Goes hat es geschrieben:
Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
klein wird dein letzter sein.

Den ersten gehen Vater und Mutter mit, den letzten gehst du allein.

Sei’s um ein Jahr, dann gehst du, Kind, viel Schritte unbewacht,
wer weiß, was das dann für Schritte sind im Licht und in der Nacht?

Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt,
groß ist die Welt und dein.
Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt
wieder beisammen sein.
Vor drei Monaten ist mein erster Enkel geboren. Ich freue mich schon, wenn ich ihm aus dem Buch vorlese und ihm meine Wünsche für sein Leben mitgebe: Ich werde ihm sagen: „Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt – und schlage die Trommel und fürchte dich nicht!“
Und natürlich werde ich ihm das Buch schenken – dieses Buch der Bücher. Denn es umgreift die ganze Welt.

GlÜckes genug...

Beim Nachdenken über das „Glück“ fällt mir ein Gedicht ein, kein schlechtes, doch wäre es wohl längst vergessen, hätte es Franz Schubert nicht als „Der Wanderer“ vertont. Wie etliche Gedichte seiner Zeit (es entstand um 1820) ist es eine Allegorie auf das Leben, das als mühsamer Weg durch Einsamkeit und Fährnisse beschrieben wird. Heimatlos und ohne eigentliches Ziel sucht das lyrische Ich sehnsuchtsvoll nach dem Glück, um am Schluss die bittere und endgültige Erkenntnis zu gewinnen: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“ Ich frage mich, ob dieses hoffnungslose Resümee eines ganzen Lebens wegen des Glücksverständnisses, das aus ihm spricht, nicht auf einem tragischen Irrtum beruht: Alle verschlungenen Pfade, alle Mühen hätten danach nur den Zweck, das „Glück“ zu finden, mit dem Risiko, am Ende diese traurige Bilanz ziehen zu müssen – vergleichbar einem Goldsucher am Sacramento River, der nach langer Schinderei am Ende ärmer fortgeht als er gekommen ist. Aber während er wenigstens weiß, wonach er gesucht hat, nach Nuggets nämlich, ist dem Glückssucher noch nicht einmal recht klar, was er zu finden gehofft hat. Was sollte das für ein „Glück“ sein? Eine dauerhafte Liebe? Reichtum? Ein Leben ohne Krankheiten? Erfolg und Ruhm? Oder all dies zusammen? Weiß der verzweifelte Sucher, weiß überhaupt jemand genau, was Glück ist?

Der lebenskluge Fontane meinte lapidar: „Gott, was ist Glück? Eine Grießsuppe, eine Schlafstelle, keine körperlichen Schmerzen, das ist schon viel.“ Der alte Goethe setzte in den Gesprächen mit Eckermann Glück einmal mit „Behagen“ gleich, das ihm nur selten und für kurze Zeit beschieden gewesen sei, und ein französischer Lebenskünstler soll geäußert haben: „Glück besteht aus einem hübschen Bankkonto, einer guten Köchin und einer tadellosen Verdauung“. Diesen arg prosaischen Vorstellungen von Glück mag ich mich nicht anschließen, aber an das große Glück, gleichsam als anzustrebenden lebensprägenden Dauerzustand, glaube ich auch nicht: dergleichen ist den Unsterblichen im Elysium vorbehalten. Unser wechselvolles Leben ist viel zu sehr von Unwägbarkeiten bestimmt, als dass man etwas suchen oder gar planen könnte, das man obendrein gar nicht eindeutig zu definieren vermag.

Wenn es aber so nicht ist, wie und was könnte es dann sein, das vielbeschworene Glück? Ich halte es für einen Augenblick, einen köstlichen Moment: Wie den ersten tiefen Schluck eines vorzüglichen Weißweins an einem Sommerabend auf einem Balkon über einer herrlichen Landschaft. Er macht froh, man kann sich seiner dankbar erinnern, aber dauerhaft machen kann man ihn nicht.

Solche Momente des Glücks habe ich immer wieder erlebt: Zum Beispiel, als ich mein Rigorosum hinter mich gebracht und das Prüfungszimmer verlassen hatte. Es war sehr gut gelaufen, ich war unendlich erleichtert. Da sah ich im Gang vor mir meine junge Frau, mit einer Rose und einer Flasche Champagner in Händen, flankiert von meinen engsten Freunden – und plötzlich durchströmte mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das ich bis heute nicht vergessen habe. Ein andermal kam ich, nach einer anstrengenden Arbeitswoche, spät abends müde auf dem menschenleeren Heimatbahnhof an, als mein zweijähriger Sohn auf kurzen Beinchen auf mich zu stürzte und sich mit einem jauchzenden „Papa!“ in meine Arme warf. Da war er wieder, dieser unverhoffte, spontane Augenblick vollkommenen Glücks. In Konzerten habe ich ihn auch empfunden, bei ganz bestimmten Werken, bei ganz besonderen Interpretationen, die etwas in mir bewirkten, das mir den Atem raubte und mich mit einer ungetrübten Freude erfüllte.

Man könnte diese Art des Glücks nun als bloße Chemie abtun, als Ausstoß von Hormonen, aber es ist mehr. Denn jeder dieser Momente ist mir in Erinnerung geblieben, hat mich geprägt, meinen Mut und meinen Optimismus gestärkt.
Eine stete, ausgeglichene Zufriedenheit gibt es sicherlich; an ein dauerhaftes Glück als beseligendes Hochgefühl vermag ich indes nicht zu glauben, es passt nicht zu den Wechselfällen des Lebens – und wer weiß, ob es überhaupt erstrebenswert wäre. Eine wunderbare Erfahrung aber sind die aus dem Augenblick, der Situation geborenen Empfindungen des Glücks, die man nicht planen und nicht vorhersehen kann. Wer sie immer wieder erleben darf, der hat, wie es in einem Lied des jungen Richard Strauss heißt, „Glückes genug“.

Von alten und neuen MÄrchen

Warum eigentlich, habe ich mich gefragt, sind die doch eher einfach gestrickten, oft stereotypen altertümlichen Volksmärchen, die Geschichten von Frau Holle, Rumpelstilzchen, der Gänsemagd oder dem Froschkönig, so sehr in unserer Erzähltradition verankert, dass sie auch im digitalen Zeitalter noch beinahe jedes Kind kennt und jeder Erwachsene ohnehin? Was macht Märchen so langlebig? Und woran liegt es, dass wir auch heute noch so süchtig nach Märchen sind, dass wir uns neben den alten laufend neue erzählen lassen?

Ich glaube, dass es dafür zwei Gründe gibt.
Der erste besteht darin, dass die Welt der Menschen so war, wie sie immer noch ist, nämlich oft unfassbar ungerecht, im Großen wie im Kleinen.
Wie oft kam es vor in der Zeit, in der viele Märchen entstanden sind, dass Tyrannen nicht bestraft, Zerstörung und Verwüstung nicht wieder gut gemacht, Verbrechen nicht gesühnt worden sind! Wie oft, aufs Ganze gesehen, hat Ausbeutung über Freigiebigkeit triumphiert, Grausamkeit über Mitleid, Rücksichtslosigkeit über Verständnis, Selbstsucht über Barmherzigkeit! So mussten die, die nichts oder nur wenig hatten, all das ertragen: Hunger, Abgaben und Frondienste, Standesdünkel, harte, maßlose Strafen. Nur eines widerfuhr ihnen selten: Gerechtigkeit. Und wenn wir uns umsehen, müssen wir feststellen, dass sich daran wenig geändert hat, auch wenn wir in einem Teil der Welt leben dürfen, der heute von den schlimmsten Ungerechtigkeiten verschont bleibt – was beileibe nicht immer so war.


Ist es da nicht wunderbar, vom tapferen Schneiderlein zu lesen oder vom gestiefelten Kater, wie sie die Großen der Welt an der Nase herumführen? Zu hören, wie der ewige Versager, der angeblich Dumme, der auszog, das Fürchten zu lernen, am Ende das ganz große Los zieht? Wie der Knüppel aus dem Sack dem Betrüger den verdienten Lohn auszahlt?
Märchen waren immer auch die Geschichten der Benachteiligten und Unterdrückten, der kleinen Leute, die sich mit den zahllosen Problemen ihres Lebens herumschlagen mussten. Märchen spendeten ihnen zu allen Zeiten Trost, denn in ihnen waren es oft die Kleinen, Schwachen, Jungen, Armen, Wehrlosen, die den scheinbar Überlegenen ein Schnippchen schlugen und am Ende die Sieger waren.

Und wer wollte abstreiten, dass die Illusion, der Ungerechtigkeit der Menschen, der Weltläufte und des Schicksals ein Schnippchen schlagen zu können, auch im 21. Jahrhundert etwas Verlockendes hat!

Der zweite Grund für die Beliebtheit von Märchen ist der, dass sie uns, wann immer wir deren bedürfen, kleine Fluchten ermöglichen.
Eine der traurigsten Geschichten, die ich kenne, stammt von dem bedeutenden Schriftsteller Günter Kunert. Sie umfasst nur wenige Zeilen und geht so: „Dahinfahren. Er wurde dafür bezahlt, daß er einen eisernen, mit häßlich-gelber Farbe gestrichenen Wagen durch die Straßen der Stadt lenkte, die eisernen Räder in eisernen Schienen, kreuz und quer durch die rauchbedeckten Quartiere. Berührte sein Fuß den entsprechenden Hebel, klingelte eine Glocke: das geschah unzählige Male. Zwischen den Häusern ging er, die in Nacht versanken, begleitet vom Aufblinken der Lichtvierecke an den Fassaden, ging er gemächlich durch die Dämmerung nach Hause. Eine Frau erwartete ihn dort, später noch Kinder, dann Einsamkeit und leere Zimmer und Staub und zuletzt Tod.“

War und ist es nicht so, dass viele Menschen vom Alltagstrott, von der täglichen eintönigen Plackerei zermürbt und desillusioniert sind? Sich nach dem Sinn des Lebens fragen, ohne befriedigende Antworten zu finden? In früheren Zeiten waren es Märchen wie das vom Aschenputtel oder den Sieben Schwänen, die den Menschen erlaubten, für eine Weile aus dem Alltag, seinen Sorgen, seiner Beengtheit und der großen Frage nach seinem Sinn in die wunderbare Welt einzutauchen, in der die steinigen Pfade kurz und die Zeiten des Glücks unendlich zu sein schienen. Heute sind noch viele andere dazugekommen, von der Heftchenstory bis zum Roman, vom abendfüllenden Kinofilm bis zur Netflix-Serie. In ihnen geht es immer noch um die ewige Liebe, das immerwährende Glück, den ganz großen Reichtum – immer noch um Märchen, die mit dem wirklichen Leben nicht viel zu tun haben, aber uns vergessen machen, was wir so sehr fürchten: die eisernen Räder in eisernen Schienen, Einsamkeit und leere Zimmer und Staub und zuletzt Tod.

Da müssen wir dUrch

Ich erinnere mich noch an meine Fahrtenschwimmerprüfung in der 5. Klasse: eine halbe Stunde Dauerschwimmen. Die richtigen Bewegungsabläufe zu üben hatte ich natürlich versäumt – jetzt war es zu spät. Keine Möglichkeit zu mogeln oder die Zeit abzukürzen, ganz gleich, ob man rechts oder links herum, im Kreis oder in Bahnen schwamm, endlos langsam ruckte der Zeiger der Uhr an der Hallenwand vorwärts. Klack, klack, klack, sechzigmal, dann war erst eine Minute vorüber, eine von 30 ... ich kam aus dem Rhythmus, Arme und Beine taten mir weh ... aber ich musste da durch, aufgeben galt nicht, die anderen schafften es ja auch, oder?

Ich habe oft in diesen zwei langen Corona-Jahren an meine Fahrtenschwimmerprüfung denken müssen: Wieder muss ich, müssen wir alle etwas durchstehen, auf das wir miserabel vorbereitet sind, von dem wir nicht wissen, wie es ausgeht. Was ist falsch, was richtig? Was gewiss, was ungewiss? So herum oder so?.

Am Anfang, da war es noch leicht: Prächtiges Wetter, herrliche Spaziergänge, endlich einmal Zeit füreinander, Muße zum Nachdenken, für ruhiges Arbeiten, neue Ideen. Ich habe mich noch lustig gemacht über Leute, die schon nach ein paar Wochen anfingen zu jammern:

Mein Covid-19-Tagebuch

Am Sonntag trinkt man Alkohol, am Montag fühlt man sich nicht wohl, am Dienstag geht man Essen kaufen, am Mittwoch wird ein Stück gelaufen, am Donnerstag das Haus geputzt, der Freitag für den Sex genutzt,
am Samstag gibt es abends Streit,
so ist sie, die Corona-Zeit ...

Aber allmählich verging mir doch der Spott: Kaum mehr Freunde sehen. Kaum mehr verreisen, nicht mehr in die Oper oder ins Konzert gehen, keine Lesungen mehr machen können, nicht mehr Essen gehen dürfen, Feiern und Einladungen absagen müssen ... Das war auf die Dauer schon sehr frustrierend, und es half wenig, sich zu sagen, dass es anderen sicherlich viel schlechter ging, in engen Stadtwohnungen, mit kleinen Kindern. Bedrückend wurde es dann mit den Meldungen über Schwerstkranke, Sterbende und Tote, mit den ersten Infektionen im Freundes-und Bekanntenkreis, mit der Not der Künstlerinnen und Künstler, den Hilferufen des Krankenhauspersonals, dem Sterben der Gastronomiebetriebe. Wie gern hätte man da einen Halt gehabt, gehofft auf eine Politik der ruhigen Hand und der klaren Führung, auf eine Gesellschaft, die zusammenhält im Kampf für die Gesundheit und das Wohlergehen aller! Wie sehr wurden diese Hoffnungen enttäuscht: Ziel-, kraft- und mutlose Politik mit widersprüchlichen, eigennützigen, kurzsichtigen Entscheidungen einer- und eine Gesellschaft andererseits, in der eine lautstark krakeelende Minderheit die Mehrheit überschreit und bereit ist, in einer Mischung aus Ignoranz und persönlichem Frust Rechtlichkeit, Vernunft und Wertsystem unserer staatlichen Ordnung aufs Spiel zu setzen.

Dabei weiß jeder, der seine fünf Sinne beisammen hat: Wir müssen diese Pandemie durchstehen, auch wenn sich ihre Dauer so zu dehnen scheint, wie für mich damals die halbe Stunde Schwimmen fürs Fahrtenschwimmerzeugnis. Wir müssen da durch – und zwar mit Anstand und Vernunft. Sonst gehen wir baden.

 Angst vor der Zukunft?

„Alte Leute sind gefährlich: Sie haben keine Angst vor der Zukunft“, hat George Bernard Shaw einmal gesagt. So sehr ich diesen genialen Satiriker sonst bewundere, hier irrt er sich. Nicht, dass alte Leute nicht gefährlich sein könnten, o ja, das können sie, man denke nur an das Unheil,  das größenwahnsinnige Greise auf dieser Welt schon angerichtet haben und gerade noch anrichten.

Nein, der zweite Teil des Bonmots weckt meinen Widerspruch; glaube ich doch, dass gerade die Älteren oft  mit Angst in die Zukunft blicken. Dabei geht es ihnen weniger um sich selbst, als um ihre Kinder und Enkel, um jüngere Menschen überhaupt, die ihnen lieb geworden sind.

Auch ich, der ich zu Shaws „alten Leuten“ zähle,  denke oft darüber nach: Was wird aus all denen, die, mir ans Herz gewachsen, noch eine lange Lebensspanne vor sich haben? In diesem Sinn habe ich durchaus Angst vor der Zukunft, und zwar, von allen Unwägbarkeiten abgesehen,  aus drei Gründen.

Zum ersten habe ich Angst vor der „Angst“.  Vor dem diffusen Unbehagen vieler Menschen gegenüber Fortschritten, nur, weil sie vom Gewohnten abweichen, ein Unbehagen, das sich bis zur hysterischen Ablehnung steigern kann.  Ein Beispiel unter vielen ist die Gentechnik, ganz gleich, ob es sich um landwirtschaftliche oder medizinische Verfahren handelt:  Bei vielen Menschen verhindert  unreflektierte Angst die wissensbasierte Einsicht. Man denke nur an die Impfstoff-Schauermärchen, die weit mehr als medizinischen Schaden angerichtet haben. Wer sollte nicht die Zukunft fürchten, wenn angstgeschürte Verschwörungstheorien ein ganzes Land spalten?

Was mich zweitens ängstigt, ist die alles durchdringende Bürokratie unseres Landes, die seinem gesellschaftlichen Fortschritt  oft genug unüberwindliche Sperren  in den Weg legt. Lange habe ich zum Beispiel versucht, in meinem Dorf für die Schwächsten eine Verbesserung der Verkehrssituation zu erreichen: Für kleine Kinder, Senioren mit Rollatoren, Menschen mit Rollstühlen oder Kinderwägen –  breite, klar gekennzeichnete Bürgersteige, optische Hindernisse, gesicherte Überwege, Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ich bin auf einen solchen Wust von Zuständigkeiten,  widersprüchlichen Regelungen,  Verfahrensvorschriften und Hin- und Her-Geschiebe von Verantwortung  gestoßen, dass ich entnervt aufgegeben habe. Wer sollte bei einem so unbeweglichen Staat nicht Angst vor der Zukunft haben?

Und was mich drittens in Angst versetzt, ist unser mangelnder Gemeinsinn. Gewiss, viele Leute sind bereit, von ihrem finanziellen Überfluss etwas abzugeben. Aber wenn es darum geht, der Allgemeinheit ein Stückchen entgegenzukommen, um den Preis einer Winzigkeit an Belästigung oder Einbuße, werden brave Bürger/innen zu unerbittlichen Verweigerern,  bereit, alles zu tun, um zu blockieren, was ihnen nicht passt, sollte es auch noch so sinnvoll sein: Natürlich möchte jeder saubere und preiswerte Energie im Überfluss haben. Aber eine Windkraftanlage in der Nähe? Nicht mit mir! Muss man bei so viel Egozentrik nicht sorgenvoll in die Zukunft blicken?

Wir alle, glaube ich, müssten viel weniger Angst vor der Zukunft haben, wenn wir nur unser ängstliche Zaudern vor dem Fortschritt überwänden, unsere starre Bürokratie beseitigten und unseren hypertrophen Individualismus durch einen pragmatischen Gemeinsinn ersetzten. So einfach wäre das. Und so schwierig.